Preistreiberei der Pharmabranche:Wie man ein Medikament drastisch verteuert

Eine Pharmafirma nimmt ein bewährtes Krebs-Medikament vom Markt. Ist es unwirksam? Gefährlich gar? Nein, es scheint nur zufällig auch gegen Multiple Sklerose zu helfen. Und für diese Erkrankung lässt es sich weitaus lukrativer vermarkten.

Werner Bartens

Die Rechnung ist ganz einfach. Je größer das Leid und je mehr Hoffnungen mit einem Medikament verbunden sind, desto teurer wird es. Nicht die Produktionskosten, auch nicht die Forschungsmühen und erst recht nicht die ausgeklügelte Mixtur der Moleküle bestimmen, wie viel ein Arzneimittel kostet. Der Preis richtet sich vielmehr nach der Schwere der Krankheit, gegen die es eingesetzt wird. Ist die Aussicht auf Linderung berechtigt oder gar eine Lebensverlängerung dadurch möglich, wird das Geschäft besonders lukrativ.

Dieses kleine Einmaleins der Pharmaindustrie müssen auch die Verantwortlichen der Firma Genzyme, eines Unternehmens der Sanofi Gruppe, in den vergangenen Monaten nochmals durchgegangen sein. Und ihr naheliegender Schluss lautete: Wir haben da ein Krebsmittel auf dem Markt, das sich in Zukunft als Arznei gegen Multiple Sklerose (MS) wahrscheinlich viel teurer verkaufen lässt. Anders ist die überraschende Marktrücknahme des Antikörpers Alemtuzumab, der unter dem Namen MabCampath seit 2001 im Handel ist, kaum zu verstehen.

Im Mai hatte Genzyme die Europäische Arzneimittelagentur EMA sowie die Europäische Kommission darüber informiert, dass die Vermarktung von Alemtuzumab beendet werden soll, vor wenigen Tagen wurde dem Ersuch stattgegeben. Bis Redaktionsschluss hatte die EMA nicht auf die Anfrage reagiert, warum sie die Rücknahme akzeptiert hat. Das Unternehmen selbst begründet sein Vorgehen eindeutig: "Genzyme hat sich zu diesem Handeln entschlossen, weil sich das Unternehmen auf die Entwicklung von Alemtuzumab in der Behandlung der Multiplen Sklerose fokussieren wird", teilt die Pharmafirma mit. Das Mittel soll also jetzt vom Markt genommen werden, um es später teurer anbieten zu können. Andere als finanzielle Gründe scheinen keine Rolle zu spielen, denn "diese Entscheidung wurde in keiner Weise aufgrund von Bedenken bezüglich der Sicherheit, Wirksamkeit oder Lieferbarkeit des Arzneimittels getroffen", so Genzyme in der Stellungnahme.

Bisher wird Alemtuzumab besonders bei Chronischer Lymphatischer Leukämie (CLL) verwendet, dem häufigsten Blutkrebs älterer Menschen. Alemtuzumab ist zwar nicht das Mittel der ersten Wahl zur Behandlung dieser Leukämie, kommt aber zum Einsatz, wenn Patienten für die übliche Chemotherapie-Kombination nicht geeignet sind. "Der Antikörper ist bei der CLL in manchen Fällen extrem hilfreich", sagt Wolf-Dieter Ludwig, Krebsexperte in Berlin und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. "Das Mittel jetzt einfach vom Markt zu nehmen, um ein neues Patent für die Behandlung der Multiplen Sklerose anzumelden und dann den Preis hochzutreiben, ist schon ein starkes Stück. So eindeutig habe ich das noch nicht erlebt. Hier gilt das Motto: Wir ziehen ein Mittel vom Markt und bringen es wieder heraus, um noch mehr damit zu verdienen."

Die Preistreiberei ist nicht neu

Dass die Arznei auch gegen MS helfen könnte, geht auf mehr als hundert Studien und Kongressberichte aus der jüngsten Zeit zurück. Endgültige Beweise und vor allem Langzeiterfahrungen in der Therapie der MS gibt es zwar noch nicht. Sollte sich jedoch bewahrheiten, dass Alemtuzumab eine Alternative in der MS-Therapie ist, sind weitaus größere Gewinnspannen mit dem Mittel möglich als zuvor. Der Markt für die Behandlung der Leukämie wie auch die Verwendung in der Transplantationsmedizin, um die gefürchtete Abstoßung zu verhindern, sind im Vergleich dazu wenig attraktiv.

Gerade mal eine halbe Million Euro Umsatz hat Genzyme mit Alemtuzumab im Jahr 2010 zur Therapie der CLL im ambulanten Bereich gemacht. Das Medikament wird allerdings hauptsächlich stationär verwendet, und dazu gibt es in Deutschland keine Umsatzzahlen, weil im Krankenhaus nach Diagnosen und nicht nach Medikamenten abgerechnet wird. In den USA sind die Zahlen transparenter. Dort hat Genzyme mit Alemtuzumab bisher 112 Millionen Dollar im Jahr verdient. Als Mittel gegen MS wäre die Arznei hingegen ein Blockbuster für die zuletzt mäßig erfolgreiche Sanofi Gruppe. "Weltweit sind damit Milliardenumsätze zu machen", schätzt Ludwig.

Dazu müsste nur eine kleinere Dosis angeboten werden - und die fände sogar Absatz zum höheren Preis. In der Therapie der CLL wird das Mittel dreimal wöchentlich bis zu zwölf Wochen lang gegeben. Je nach Verlauf kann der Zyklus wiederholt werden, so entstehen Therapiekosten von bis zu 40 000 Euro pro Patient und Jahr. Um erste Erfolge in der Behandlung der MS zu erzielen, die länger als ein Jahr anhielten, reichten in bisherigen Studien hingegen acht bis zwölf Infusionen mit einer niedrigen Dosis Alemtuzumab - und die sind für weniger als 5000 Euro zu haben. Auf dem Markt der MS-Mittel, die 30.000 Euro pro Patient und Jahr kosten können, wäre das vergleichsweise günstig. "Statt von Mondpreisen würde man dann wieder von halbwegs normalen Preisen reden", sagt Ludwig. "Aber das würde ja das Geschäft kaputt machen."

Der Hersteller will sicherstellen, dass auch Patienten mit Leukämie oder nach Transplantationen das Medikament weiter benutzen können, obwohl es für diese Indikationen nicht mehr auf dem Markt ist. Über ein kompliziertes Verfahren, das Campath Access Program, soll Alemtuzumab zentral für Europa bestellt und dann weiter an die Ärzte und Kliniken verteilt werden, allerdings nicht über Genzyme, sondern ein Unternehmen namens Clinigen. Genzyme gibt zu, dass die umständliche Anforderung "einen etwas höheren administrativen Aufwand bedeutet". Krebsmediziner Ludwig ist empört: "Es kann ja wohl nicht sein, dass wir uns fast heimlich an irgendeine Klitsche wenden müssen, um das Zeug weiter zu bekommen", sagt der Onkologe. "Das ist ein Dilemma für Ärzte wie Patienten."

Am Paul-Ehrlich-Institut seien in der Abteilung für Arzneimittelsicherheit bisher keine Beschwerden eingegangen, sagt deren Leiterin Brigitte Keller-Stanislawski. Die Firma habe gegenüber den Behörden versichert, spätestens eineinhalb Tage nach der Bestellung das Mittel zu liefern und diese Frist bisher auch eingehalten. "Ja, es ist eine bürokratische Hürde und aufwendig für die Ärzte, das Medikament jetzt zu bestellen", sagt Keller-Stanislawski. "Aber wir werden uns weiterhin darum kümmern, dass Patienten, die das Mittel brauchen, damit versorgt werden."

Verhindern lässt sich eine solche freiwillige Marktrücknahme mit den bisherigen Regularien wohl kaum. Der Pharmamarkt hat freies Spiel. Stilbildend könnte die Preistreiberei im Fall der Medikamente Avastin und Lucentis gewesen sein. Das Krebsmittel Avastin erwies sich vor einigen Jahren auch als hilfreich gegen die zur Erblindung führende Makuladegeneration. Bald darauf wurde ein neuer Name für die Arznei erfunden, die Substanz minimal verändert - und der Preis von 40 Euro auf 1500 Euro pro Behandlung hochgesetzt.

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